Stina Mentzing im Gespräch mit Susanne Richter, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Geschlechterforschung der Uni Hildesheim

Porträt Dr. Susanne Richter

SM: Können Sie Ihre aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit in zwei bis drei Sätzen skizzieren?

SR: Ich bin Geschlechterforscherin und Soziologin. In meiner Dissertation habe ich die Beauty Community auf YouTube als Performances und Aushandlungen von Weiblichkeit untersucht, bin also der Frage nachgegangen, wie die Akteur_innen der Videos und die Kommentierenden Weiblichkeit aushandeln und diskursiv entstehen lassen. Außerdem beschäftige ich mich mit Genderdidaktik und Genderkompetenz von Lehramtsstudierenden, arbeite an einem Evaluationsprojekt für eine soziale Einrichtung und vertiefe mich gerade in das Thema Gender & Digitalisierung, dem vielleicht das nächste Forschungsprojekt gewidmet sein soll.

SM: Welche Relevanz hat Gender in Ihrem Fachbereich?

SR: Da ich mich vorrangig als Geschlechterforscherin verstehe und im Zentrum für Geschlechterforschung arbeite: eine große. Gender ist in meiner Arbeit entweder direkt zentraler Gegenstand des Interesses oder indirekt, etwa wenn Theorien und Fragestellungen der Geschlechterforschung zu anderen wichtigen Themen führen, wie beispielsweise der kritischen Auseinandersetzung damit, wie Wissen generiert wird oder Normen oder Hierarchien entstehen.

SM: Seit wann sind Sie bei der LAGEN aktiv und über welche Mitgliedseinrichtung nehmen Sie an der LAGEN teil?

SR: Ich bin seit dem Frühjahr 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Geschlechterforschung der Uni Hildesheim und seitdem aktiv in der LAGEN. Ich habe allerdings vorher lange in den Bielefelder Gender Studies gearbeitet und hatte schon vorher immer wieder Kontakt zu der LAGEN - das Netzwerk ist auch über die Grenzen Niedersachsens hinaus deutlich wahrnehmbar.

SM: Welche Tätigkeiten beinhaltet Ihre Mitarbeit an der LAGEN?

SR: Im Moment war ich vor allem bei Vernetzungstreffen aktiv. 

SM: Ihre letzte Publikation in einem Satz?

SR: Der Publikationsprozess hat gerade begonnen und ein bisschen dauert es wohl noch, doch das wohl die Dissertation. Anhand einer Untersuchung der Beauty Community gehe ich Performances und Aushandlungen der Akteur_innen von Weiblichkeit nach.

SM: Welchen Bezug hat Ihre Publikation zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung/Gender Studies?

SR: Kern meines Interesses in der Untersuchung ist die Position von Weiblichkeit in der Geschlechterordnung und damit das Spannungsverhältnis der historisch sehr erfolgreich als defizitär und untergeordnet etablierten Positionierung von Weiblichkeit im Verhältnis zu Männlichkeit und der Transformation zu egalitäreren Modellen im Rahmen gegenwärtigen Wandels. Es ist also ein Blick auf die gegenwärtigen Verhandlungen der Geschlechterordnung und darauf, in welchen widersprüchlichen Anforderungen dies die Akteur_innen positioniert, wenn sie sich mit Schönheitshandeln sichtbar machen.

SM: Wem würden Sie Ihre Publikation empfehlen?

SR: Geschlechterverhältnisse, neue digitale Medien und Räume aus einer Genderperspektive und das Phänomen der Beauty Videos im Besonderen interessieren. Vor allem würde ich mir wünschen, dass Menschen mein Buch lesen, die sich über die Beauty Videos ärgern, weil sie sie als eine klischeehafte, rückständige Form von Weiblichkeitsperformances sehen - das ist ein wichtiger Impuls, an dem ich auch ansetze, von dem ich aber glaube, eine andere Perspektive darauf aufzeigen zu können: Es ist sehr spannend, den Impuls der Abwertung und Banalisierung von Femininität mit kritischer Neugier nachzugehen.

SM: Sie sitzen mit Freunden am Küchentisch und das Thema Gender wird angesprochen. Wie erklären Sie Ihren Bezug zum Thema und was es mit Ihrem Beruf zu tun hat?

SR: Ich versuche dann oft, das konstituierende Wechselverhältnis von Geschlecht und Gesellschaft zu erklären: Gesellschaften bringen hervor, was Geschlecht ist und werden wiederrum ihrerseits stark davon bestimmt und geprägt - beides kann man eigentlich nicht sinnvoll untersuchen, ohne intensiv nach dem jeweils anderen zu fragen. Und ich erzähle in solchen Momenten auch gerne, dass aus Sicht der Gender Studies Geschlecht nicht nur Hauptthema sondern wie ein spannender Filter ist, durch den man sich nahezu jedes Thema ansehen kann.

SM: Was lesen Sie, wenn sie keine wissenschaftlichen Texte lesen?

SR: Im Moment liegen vor allem Graphic Novels auf meinem Nachtisch. Sehr beeindruckt hat mich in letzter Zeit "Are you my mother?" von Alison Bechdel.

SM: Welche Autor_innen lesen Sie gerne? Und wieso?

SR: Ich merke erst jetzt, dass ich viele Bücher, die ich in letzter Zeit mochte das einzige waren, was ich von den entsprechenden Autor_innen gelesen habe. Aus meiner Teenagerzeit übrig geblieben ist eine Vorliebe für Douglas Adams und Terry Pratchett, weil ich das ungewöhnliche Storytelling, die vielen Ideen und natürlich den Humor so mag. Den Humor mag ich auch an den Büchern von John Irving, zusammen mit der Tragik, der seltsamen Kombination von Themen die sich immer wiederholen und unerwartete Formulierungen, die mich oft berühren. Und ich möchte unbedingt mehr von Octavia E. Butler lesen, für mich sehr neue Erzählweise und spannend nicht-essentialisierende Art, Geschlechterverhältnisse und -konflikte zu beschreiben.

SM: Welche Bücher würden Sie auf jeden Fall weiterempfehlen?

SR: Bücher die ich schon sehr oft empfohlen, aufdringlich ausgeliehen oder verschenkt habe sind "Bittervotze" von Maria Sveland, "Die Scham ist vorbei" von Anja Meulenbelt, "Medea" und "Kassandra" von Christa Wolf und "Der Ursprung der Welt" von Liv Strömquist. Und zum wissenschaftlichen Schreiben die Bücher von Judith Wolfsberger.

SM: Für was hätten Sie gerne mehr Zeit?

SR: Um zu zeichnen, malen, um draußen zu sein, am liebsten ganze Tage lang, um Freund_innen oft zu besuchen, die in anderen Städten leben und ehrlich gesagt auch für die ganzen Dinge, die man einfach so erledigen muss.

SM: Was würden Sie an einem Tag unternehmen, an dem die gesamte technische Infrastruktur und alle technischen Geräte nicht funktionieren würden?

SR: Malen. In Verbindung mit einer Radtour, wenn das Wetter gut ist. Abends dann eigentlich kochen mit Freund_innen, aber bei denen muss ich wohl vorher vorbei geradelt sein, um sie einzuladen. Ach, Kochen geht ja nicht. Abends dann Schnittchen mit den Freund_innen die nahe an meiner Wohnung wohnen.

SM: Wen würden Sie gerne einmal treffen? Warum?

SR: Adele Clarke. Sie ist Erfinderin der Situationsanalyse, mit der ich in meiner Dissertation gearbeitet habe und hat Bücher darüber geschrieben, die viel mehr sind als nur Anleitungen zur Anwendung einer wissenschaftlichen Forschungsmethode und die eine wichtigen Basis im Prozess der letzten Jahren waren.

SM: Wohin würden Sie gerne verreisen? Warum dorthin?

SR: Wohin ist mir im Moment gar nicht so wichtig: Aber ich möchte am liebsten mit Freund_innen zusammen mit dem Fahrrad dahin fahren und hätte gerne Zeit, um viel vor Ort zu malen. Ich bin immer ganz überwältigt von der Vielzahl möglicher Ziele und schöner Orte und den zeitlichen und ethischen Einschränkungen beim Reisen-Wollen, deswegen habe ich eigentlich keine Listen im Kopf. Ich möchte seit Jahren nach Amsterdam und es klappte bislang nicht und gerade haben viele Freund_innen von Portugal und Slowenien geschwärmt, deswegen fallen mir die jetzt als erstes ein.

SM: An welchen Vorbildern - seien es Menschen oder Projekte -, orientieren Sie sich?

SR: Vielleicht eher im Alltag als bei den großen politischen oder ethischen Fragen: Manchmal überlege ich kurz, was Lorelai Gilmore jetzt tun würde.

SM: Ich habe Freude an meinem Beruf, weil ...

SR: ... Ich meine Arbeit in Forschung und Lehre wichtig finde, ich viel Gelegenheit bekomme, mich mit faszinierenden, spannenden Dingen auseinanderzusetzen und weil er mich stets mit Menschen zusammenbringt, mit denen zusammen zu arbeiten, zu denken und zu lernen immer wieder ungemein bereichernd ist.

SM: Die LAGEN ist wichtig, weil ...

SR: ... sie die Einrichtungen der Geschlechterforschung in Niedersachsen vernetzt und ein bedeutendes Scharnier zur Landespolitik und Mittelgebendenden darstellt. Mich beeindruckt vor allem die strategische Ausrichtung und Handlungsweise der LAGEN, ich finde es unglaublich wertvoll, dass es sie gibt. Und ich bin froh über die vielen Kontakte zu den Kolleg_innen an anderen Standorten, mit denen ich dank der LAGEN in einem regen Austausch stehe.

SM: Ich wünsche der LAGEN, dass ...

SR: ... sie zukünftig stabil und gut finanziert wird und es sie noch lange gibt. Eigentlich wünsche ich das vor allem mir und 'uns'. (Und mehr von den lila Kugelschreibern, die sind am schönsten.)

SM: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben!