Stina Mentzing im Gespräch mit Corinna Bath, Maria-Goeppert-Mayer-Professorin für Gender, Technik und Mobilität TU Braunschweig und Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften
SM: Können Sie Ihre aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit in zwei bis drei Sätzen skizzieren?
CB: In meiner Arbeitsgruppe verschränken wir Geschlechterforschung systematisch mit ingenieurwissenschaftlicher Forschung & Entwicklung. Ziel dieser interdisziplinären Verknüpfung ist es, soziale Ungleichheiten, die sich in technischen Produkten und ihren Entwicklungsprozessen fortsetzen, zu identifizieren und mit diesem Wissen Technik zu gestalten. Wir entwickeln und erproben Methoden zur Gestaltung technischer Artefakte, die weder bestimmte soziale Gruppen von der Nutzung ausschließen noch diskriminieren, sondern die Anforderungen vielfältiger Lebensrealitäten erfüllen.
SM: Welche Relevanz hat Gender in Ihrem Fachbereich?
CB: Die Relevanz von Gender Studies für die ingenieurwissenschaftliche Forschung im Maschinenbau wird noch immer stark unterschätzt. Der Fokus liegt dort weiterhin auf der Gewinnung von mehr Frauen für das Studium und das wissenschaftliche Personal. Solange jedoch die Erkenntnisse der Geschlechterforschung nicht wahrgenommen werden, bleiben technische Produkte und technische Fachkulturen unverändert. Die ungleiche Verteilung der Geschlechter wird als "Frauen"problem gesehen. Diese Grundannahme hat in den letzten Jahrzehnten Veränderungen verhindert.
SM: Seit wann sind Sie bei der LAGEN aktiv und über welche Mitgliedseinrichtung nehmen Sie an der LAGEN teil?
CB: Als Maria-Goeppert-Mayer-Professorin bin ich seit meiner Berufung 2012 an die TU Braunschweig und Ostfalia Hochschule in der LAGEN aktiv.
SM: Welche Tätigkeiten beinhaltet Ihre Mitarbeit an der LAGEN?
CB: Unter anderem hatte ich eine LAGEN-Jahrestagung (2016) und Workshops mit ausgerichtet und in einem Jahr die Einreichungen für den Doktorand*innentag begutachtet. Zuletzt war ich im Bereich "Gender und Digitalisierung" engagiert, der mir als ausgebildete Informatiker*in am Herzen liegt.
SM: Ihre letzte Publikation in einem Satz?
CB: In der Monographie Geschlechterwissen in und zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Kritik an akademischer Wissensproduktion (hg. von Barbara Paul, Corinna Bath und Silke Wenk, erscheint 2020 bei transcript) wurden die Bedingungen und Möglichkeiten für intervenierendes Wissen von Geschlecht und dessen Bedeutungen für die Disziplinen Informatik, Naturwissenschaften/Biologie und Kunstwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er Jahren untersucht. Auch wenn dies schon ein zweiter Satz ist, möchte ich darauf hinweisen, dass die Publikation aus einem Verbundprojekt hervorgegangen ist, das in der Förderlinie "Geschlecht-Macht-Wissen" des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur gefördert wurde, und Beiträge von Corinna Bath, Göde Both, Smilla Ebeling, Reinhild Feldhaus, Melanie Nowak, Barbara Paul, Silke Wenk und Anja Zimmermann umfasst.
SM: Welchen Bezug hat Ihre Publikation zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung?
CB: Infragestellungen akademischer Strukturen und disziplinärer Grundlagen, Prozesse der Institutionalisierung sowie Debatten um Interdisziplinarität, die im Band historisch analysiert werden, sind in der Geschlechterforschung bis heute aktuell.
SM: Wem würden Sie Ihre Publikation empfehlen?
CB: Vor allem Geschlechter- und Wissenschaftsforscher*innen sowie all denjenigen, die Interesse an der Frage haben, wie (geschlechter-)kritisches Wissen Eingang in akademische Disziplinen finden konnte und welche "dissidenten" Praktiken dabei entwickelt worden sind.
SM: Ihr Projekt in einem Satz?
CB: Ein spannendes Projekt in meiner Arbeitsgruppe ist das Junior Research Project "Human demands of sustainable aviation", das Dr. Sandra Buchmüller im DFG-Exzellenzcluster "Sustainable Energy-Efficient Aviation" eingeworben hat und von der Doktorandin Julia Stilke bearbeitet wird. Mit Methoden der ethnographischen Feldforschung werden zunächst Verständnisse von Nachhaltigkeit innerhalb des Forschungsclusters erhoben, um die in der zweiten Projektphase partizipativ aus ihren vielfältigen alltäglichen Lebenswelten ermittelten Anforderungen von (Flug-)Passagier*innen und Anwohner*innen von Flughäfen an eine nachhaltige Luftfahrt in die Forschungen des Exzellenzclusters einzubinden.
SM: Welchen Bezug hat Ihr Forschungsprojekt zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung?
CB: In ingenieurwissenschaftlichen Projekten wie diesem geht es oft erst einmal darum, das Soziale, z.B. Menschen in ihrer Vielfalt, in den Blick zu bringen. Z.B. können zulässige Störungen durch Fluglärm in Dezibelgrenzwerten ausgedrückt werden. Wir verfolgen demgegenüber den Ansatz, dass es auf die Lebenssituation ankommt, ob eine bestimmte Dezibelhöhe als besonders störend empfunden wird. Morgendlicher Fluglärm ist ein kleineres Problem, wenn ich sowieso früh aufstehen muss, um arbeiten zu gehen, während er am Wochenende, wenn ich ausschlafen und auf der Terrasse frühstücken möchte, stark stören kann. Wenn Kinder deshalb nicht einschlafen, bin ich stärker betroffen, als allein. Etc. pp. Diese Beeinträchtigungen kann ich nicht in einer Laborsituation messen. Ich muss vielmehr den Alltag der Betroffenen analysieren und verstehen, der je nach Person sehr unterschiedlich sein kann. Um diese verschiedenen Lebens- und Alltagsituationen einzubeziehen, sind sozialwissenschaftliche Methoden verknüpft mit Ansätzen der Geschlechter- und Vielfaltsforschung ebenso zielführend wie Ansätze der feministischen Objektivitätskritik.
SM: Mit wem würden Sie gern Ihr aktuelles Forschungsprojekt diskutieren? Und warum?
CB: Zunächst möchte ich die Ergebnisse des Projekts mit den Ingenieur*innen im Forschungscluster diskutieren. Letztendlich geht es mir aber darum, sämtliche Ingenieurwissenschaftler*innen und Wissenschaftspolitiker*innen davon zu überzeugen, dass Ingenieurwissenschaften die Geschlechterforschung brauchen, um gute technische Artefakte zu erstellen.
SM: Sie sitzen mit Freunden am Küchentisch und das Thema Gender wird angesprochen. Wie erklären Sie Ihren Bezug zum Thema und was es mit Ihrem Beruf zu tun hat?
CB: Meist versuche ich Beispiele für technischen Bias aus den Lebensbereichen meiner Gegenüber zu finden, z.B. KI-Recruiting-Software, die mit den Daten erfolgreicher Bewerbungen der letzten 10 Jahre trainiert wurde und deshalb nur männliche Kandidaten vorschlug, oder ein "smart house" für die Wissenschaft, das dem Reinigungspersonal keinen Zugang gewährte, weil die technischen Designer*innen des Hauses diese Nutzer*innen - vielfach Frauen, die "unsichtbare" Arbeit leisten - schlichtweg vergessen hatten.
SM: Was lesen Sie, wenn sie keine wissenschaftlichen Texte lesen?
CB: In Zeiten von Corona lese und höre ich viele Nachrichten - und stelle erfreut fest, dass sich die Bedeutung von Wissenschaft verändert hat. Ich sehe, dass kleine Anzeichen dessen, was wir unter feministischer Objektivitätskritik verstehen, in die Medienberichterstattung über Wissenschaft Eingang finden. Ich hätte aber gern mehr Zeit auch für andere als nur wissenschaftliche Bücher und Nachrichten.
SM: Welche Autor_innen lesen Sie gerne? Und wieso?
CB: Zum Beispiel Chimamanda Ngozi Adichie oder Arundhati Roy, weil sie mir kritische und feministische Einblicke aus Perspektiven des globalen Südens eröffnen.
SM: Welche Bücher würden Sie auf jeden Fall weiterempfehlen?
CB: Adichies "Dear Ijeawele, Or A Feminist Manifesto In Fifteen Suggestions" bzw die deutsche Übersetzung gehört an jeden Küchentisch und in jedes WG-Regal. Auch Swing Time von Zadie Smith ist ein wichtiges Buch in Zeiten von "Black Lives Matter".
SM: Für was hätten Sie gerne mehr Zeit?
CB: Für meine Freud*innen und seit dem gefühlten Angekettetsein an den Rechner im Zuge von Homeoffice und digitaler Lehre: Sport, Bewegung, Draußensein.
SM: Was würden Sie an einem Tag unternehmen, an dem die gesamte technische Infrastruktur und alle technischen Geräte nicht funktionieren würden?
CB: Da ich eine technische Ausbildung habe, würde ich vermutlich zunächst damit beschäftigt sein, Workarounds zu finden. Wenn aber tatsächlich nichts ginge, würde ich handgeschriebene Einladungskärtchen an Freund*innen in meiner Nähe per Rad verteilen (wenn diese Infrastruktur ausfällt, ginge das auch zu Fuß), ein großes Essen kochen und mit allen, die kommen und meiner WG gemeinsam das Leben feiern.
SM: Wen würden Sie gerne einmal treffen? Warum?
CB: Am spannendsten ist es immer, die Wissenschaftler*innen, mit deren Theorien ich arbeite, in Vorträgen zu hören und persönlich zu treffen. Seit nicht nur die Lehre, Forschung und Meetings aufs Digitale umgestellt sind, sondern auch Tagungen, wird das leider immer schwieriger.
SM: Wohin würden Sie gerne verreisen? Warum dorthin?
CB: Ich träume, seit ich 18 Jahre alt war, von einer Weltumsegelung. Dabei geht es eher ums Reisen selbst als um den spezifischen Ort. Das Ankommen per Boot eröffnet eine andere Perspektive und Wahrnehmung, ein anderes Raum-Zeit-Erleben als das Ankommen mit dem Zug, Flugzeug oder Fahrrad.
SM: Ich habe Freude an meinem Beruf, weil ...
CB: ... wissenschaftliches Arbeiten mit Kolleg*innen und Studierenden in der Geschlechterforschung so unglaublich spannend ist.
SM: Die LAGEN ist wichtig, weil ...
CB: ... sie "die" institutionelle Struktur in Niedersachsen für die Geschlechterforschung ist.
SM: Ich wünsche der LAGEN, dass ...
CB: ... sie die Geschlechterforschung in Niedersachsen weiter ausbauen und vorantreiben wird.
SM: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben!