Stina Mentzing im Gespräch mit Prof. Hans-Jörg Kapp, Sprecher des GenderNetzes der Hochschule Hannover

SM: Können Sie Ihre aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit in zwei bis drei Sätzen skizzieren?

HJK: Ich arbeite einerseits zu Theater und Neobarock, einem Diskurs, der seit längerem in der Filmtheorie sowie der Kunstgeschichte bzw. den Visual Studies geführt wird. Andererseits bin ich mit Künstlerischer Forschung im Spannungsfeld von Performance und Neurologie befasst. Es geht dabei darum, Bewegungsauffälligkeiten nicht als Störungen, sondern als Potentiale zu lesen. Das Vorhaben findet in Kooperation mit dem DFG-geförderten Forschungsprojekt TEC4Tic der Uni Lübeck und der TU Dresden statt, die vorwiegend zum Tourette-Syndrom arbeitet.

SM: Seit wann sind Sie bei der LAGEN aktiv und über welche Mitgliedseinrichtung nehmen Sie an der LAGEN teil?

HJK: Im Jahr 2020 haben Sandra Düwel (Koordination) und ich (Sprecher) die Nachfolge von Prof. Dr. Helene Götschel und Dr. Katharina Krämer im GenderNetz der Hochschule Hannover angetreten. Damit haben wir auch die Zusammenarbeit bei der LAGEN mit übernommen, bei der das GenderNetz seit 2018 Mitglied ist. Für die Hochschule Hannover ist das Thema Gender zwar ein Querschnittsthema, doch in vielen Fakultäten findet Frauen- und Geschlechterforschung nicht wirklich statt. In unserer Design-, Medien- und Informationsfakultät ist das Thema hingegen angekommen, es wird mit Engagement beforscht und geht in die Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse ein.

SM: Was ist Ihre Funktion in dieser Einrichtung?

HJK: Als Professor für Dramaturgie und Regie im Studiengang Szenografie I Kostüm I Experimentelle Gestaltung bin ich verantwortlich für dramaturgische, theaterwissenschaftliche und regiepraktische Themen.

SM: Welche Tätigkeiten beinhaltet Ihre Mitarbeit an der LAGEN?

HJK: Die Hochschule Hannover ist als angewandte Hochschule stark durch einen Ingenieurs- und MINT-Mainstream geprägt. Gender- und Frauenforschung ist nicht unbedingt Teil der hiesigen Forschung und Entwicklung. Für Sandra Düwel und mich ist die LAGEN insofern ein überlebensnotwendiges Wissens- und Kommunikations-Netzwerk, das uns Forschungsperspektiven aufzeigt, uns aber auch in unserem Tun stärkt. Unser langfristiges Ziel ist es, dem LAGEN-Netzwerk das zurückzugeben, was wir am besten können - und das ist unserer Meinung nach Angewandtes: gendersensible Gestaltung und gendersensible Forschung und Entwicklung.

SM: Ihre letzte Publikation in einem Satz?

HJK: Motion Picture Design - Filmtechnik, Bildgestaltung und emotionale Wirkung (Hanser 2021) versammelt und verdichtet wahrnehmungstheoretische Konzepte und wendet diese auf das aktuelle Erzählkino an.

SM: Welchen Bezug hat Ihre Publikation zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung?

HJK: Genderthemen stehen nicht im Fokus der Publikation. Sie werden aber angesprochen, wenn es etwa um heteronormative Konzepte von Figuren im tradierten Hollywood-Kino geht. Auch war mir ein Anliegen, Regisseurinnen wie etwa Maren Ade sowie queere Regisseure wie Wong Kar-Wai in besonderer Weise hervorzuheben.

SM: Wem würden Sie Ihr Buch empfehlen?

HJK: Allen Personen, die das Kino lieben und die Filme machen oder machen möchten.

SM: Ihr Projekt in einem Satz?

HJK: Erlaubt es der Neobarock-Diskurs, der sich in den vergangenen Jahren in Australien und Lateinamerika neu konstituiert hat, Kriterien für die Analyse des zeitgenössischen Theaters zu etablieren?

SM: Welchen Bezug hat Ihr Forschungsprojekt zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung?

HJK: Ich stehe erst am Anfang, aber ich gehe u.a. der Hypothese nach, dass die queere Camp-Ästhetik der sechziger und siebziger Jahre einen größeren Einfluss auf die Neuausrichtung der Neobarock-Diskussion ausgeübt hat.

SM: Was macht Ihr Forschungsprojekt besonders?

HJK: Dessen Transmedialität sowie der Umstand, dass die Neobarock-Debatte in Theaterwissenschaftskreisen bislang wenig bekannt ist.

SM: Mit wem würden Sie gern Ihr aktuelles Forschungsprojekt diskutieren? Und warum?

HJK: Mit dem chinesischen Regisseur Tianzhuo Chen, um ihn nach Barockeinflüssen auf seine Theaterästhetik hin zu befragen.

SM: Sie sitzen mit Freund_innen am Küchentisch und das Thema Gender wird angesprochen. Wie erklären Sie Ihren Bezug zum Thema und was es mit Ihrem Beruf zu tun hat?

HJK: Ich würde mit dem Begriff der Heteronormativität beginnen und ihn anhand von Netflix-Serien und oder aktuellen Kino-Blockbustern erklären. Dann würde ich meinen Freunden empfehlen, sich die Geschlechterverhältnisse in den Dramen von Euripides wie etwa in Die Troerinnen anzusehen, um aufzuzeigen, dass Genderbelange keine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts sind.

SM: Was lesen Sie, wenn sie keine wissenschaftlichen Texte lesen?

HJK: Wenn ich keine wissenschaftlichen Texte lese, gehe ich ins Theater und sehe mir grandiose Inszenierungen von weiblichen Theaterkollektiven wie etwa She She Pop, Frl. Wunder AG oder Swoosh Lieu an.

SM: Welche Autor_innen lesen Sie gerne? Und wieso?

HJK: Elfriede Jelinek. Denn sie wirft der lesenden Person mit furiosem Gestus Textbruchstücke vor die Füße, die einen sowohl unter äußersten Stress setzen, als auch tief unter die Haut gehen.

SM: Welche Bücher würden Sie auf jeden Fall weiterempfehlen?

HJK: Ich würde, weil soeben zu Unrecht in der SZ verrissen, Die aktuelle Situation der Berliner Autorin Ruth Herzberg empfehlen - eine Aufarbeitung der Corona-Zeit aus der Perspektive einer alleinerziehenden Mutter. Herzberg passt nicht ins klassische Mutterbild, schert sich wenig um Konventionen und braucht dringend mehr Zeit für ihre Lover. Und sie macht sich dabei nicht einmal die Mühe, ein narratives Framing zu kreieren. Was für ein wunderbar zeitgenössisches Schreiben.

SM: Für was hätten Sie gerne mehr Zeit?

HJK: Ich würde mich gern einmal mit Muße und chronologisch durch zentrale Primärtexte der Genderliteratur lesen von Julia Kristeva über Helène Cixous bis zu Gayatri Chakravorty Spivak.

SM: Was würden Sie an einem Tag unternehmen, an dem die gesamte technische Infrastruktur und alle technischen Geräte nicht funktionieren würden?

HJK: Schwimmen, Klavier spielen, Genderliteratur systematisch lesen (von Kristeva bis Spivak) und vegetarische Gerichte erproben.

SM: Wen würden Sie gerne einmal treffen? Warum?

HJK: Karen Barad, da ich noch Fragen zu ihrer Niels-Bohr-Lektüre hätte.

SM: Wohin würden Sie gerne verreisen? Warum dorthin?

HJK: Nach Island wegen des Naturerlebens.

SM: An welchen Vorbildern - seien es Menschen oder Projekte -, orientieren Sie sich?

HJK: An der subtilen Filmregie des taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-hHien und dem Schreiben Elfriede Jelineks.

SM: Ich habe Freude an meinem Beruf, weil...

HJK: ... ich, wenn ich gut arbeite, am Semesterende atemberaubende Bühnen- und Kostümentwürfe zu sehen bekomme.

SM: Die LAGEN ist wichtig, weil...

HJK: ... Niedersachsen stolz darauf sein kann, in Sachen Frauen- und Geschlechterforschung schon früh eine strukturelle Kommunikationsplattform etabliert zu haben.

SM: Ich wünsche den LAGEN...

HJK: ... zum einen einige unbefristete Stellen und zum anderen noch mehr unbefristete Stellen, damit die Genderforschung in Niedersachsen noch nachhaltiger betrieben werden kann.

SM: Wollen Sie noch einen abschließenden Satz sagen?

HJK: I would prefer not to.