"Überlegungen zum Potenzial der 'Leerstelle' für intersektionale Ansätze in der Narratologie"

Daniela Hrzán (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover / Humboldt-Universität zu Berlin)


Abstract 

Der Vortrag beschäftigt sich aus Perspektive einer dezidiert kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft mit der Frage, wie die insbesondere in den Gender Studies diskutierten Theorien von Intersektionalität und Interdependenzen in ein produktives Gespräch mit narratologischen Ansätzen gebracht werden können. Ich teile dabei die von Nünning/Nünning 2014 vertretene Position, demnach beide Seiten – sowohl die Erzähltheorie als auch die feministische Literaturwissenschaft – von der Entwicklung kulturwissenschaftlicher Formen der Erzähltextanalyse profitieren können, die nicht nur aus Sicht der Gender Studies, sondern auch mit Bezug auf narrative Konstruktionen weiterer Kategorien sozialer Ungleichheit und Privilegierung neue Perspektiven anbieten. Während die traditionelle Narratologie keine Kategorien zur Verfügung stellt, die geschlechtsspezifische Besonderheiten der Erzählweise oder andere soziokulturelle Differenzkategorien gezielt in den Blick nehmen und somit soziale Wirklichkeit weitgehend ausschließen, haben sich feministische Literaturwissenschaft und literaturwissenschaftliche Gender Studies zwar auf eben diesen Aspekt konzentriert, haben dabei aber die Frage nach der Form vernachlässigt und zentrale Aussagen nicht durch erzähltheoretische Kategorien untermauert.

Im ersten Teil meines Vortrags stelle ich den aktuellen Stand der Diskussion über die Rezeption von Intersektionalitätstheorien in der Narratologie kurz vor. Anhand eines ausgewählten erzähltheoretischen Zugangs, dem Reader Response Criticism, werde ich im zweiten Teil des Vortrags dann am Beispiel von zwei Texten der US-amerikanischen Literaturgeschichte – Toni Morrisons Kurzgeschichte Recitatif (1983) und Joyce Carol Oates‘ Roman Black Girl, White Girl (2006) – zeigen, auf welche Weise Narratologie und Intersektionalitätsforschung verknüpft werden können. Zentral für meine Überlegungen ist dabei der aus der Rezeptionsästhetik stammende Begriff der 'Leerstelle' (Iser 1984) und die damit verknüpfte Frage nach den Potenzialen solcher Leerstellen für Lesarten, die komplexe Modelle sozialer Wirklichkeit erfassen möchten. In diesem Zusammenhang werde ich die folgenden Fragen diskutieren: Welche Räume der Ermöglichung schafft die 'Leerstelle' für intersektionale Lesarten der Texte von Morrison und Oates, die auf den ersten Blick mit einer Schwarz-Weiß-Dualität operieren, aber unter der Textoberfläche ausgesprochen komplexe Interpretationen sozialer Identitäten andeuten? Wie unterscheiden sich die beiden Texte hinsichtlich der Art und Weise, wie 'Leerstellen' operieren, und welche Anschlussmöglichkeiten an konkrete theoretische Ansätze der Intersektionalität bzw. Interdependenzen werden dadurch ermöglicht?