Stina Mentzing im Gespräch mit Jördis Grabow, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Diversitätsforschung der Georg-August Universität Göttingen

Porträt Dr. Jördis Grabow

SM: Kannst Du Deine aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit in zwei bis drei Sätzen skizzieren?

JG: Aus meiner soziologischen Perspektive beschäftige ich mich mit widerständigen Praktiken und ihren Möglichkeiten zur Transformation. Transformation verstehe ich dabei sowohl als eine innere, subjektbezogene und als eine äußere, gesellschaftliche Begrifflichkeit. In meiner Dissertation habe ich mich zum Beispiel intensiv mit feministischen Widerstandspraktiken beschäftigt und anhand einer dispositivanalytischen Perspektive untersucht, wie sich Widerständigkeit konstituiert und wie jene die realwirksamen Hervorbringungen des Geschlechterdispositivs hinterfragen, angreifen und verändern.

SM: Welche Relevanz hat Gender in Deinem Fachbereich?

JG: Insbesondere in der Betrachtung der feministischen Widerstandspraktiken spielt Geschlecht selbstverständlich eine entscheidende Rolle. Wenn ich Prozesse von Ungleichheit, Differenzierung, Diskriminierung und Marginalisierung verstehen will, muss ich Geschlecht in meine Analysen mit einbeziehen, gleiches gilt aber auch für andere Dimensionierungen. Ich würde daher immer Geschlecht als eine relevante, intersektionale Dimension verstehen.

SM: Seit wann bist Du bei der LAGEN aktiv und über welche Mitgliedseinrichtung nimmst Du an der LAGEN teil?

JG: Ich habe im Januar 2016 als Koordinatorin der LAGEN angefangen und diese bis September 2021 begleitet. Daher war ich nie in einer Mitgliedseinrichtung verortet, sondern konnte im engen Kontakt alle Mitgliedseinrichtungen und ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte kennenlernen.

SM: Bist Du außerhalb der LAGEN in einem anderen Feld tätig?

JG: Ich bin neben meiner Tätigkeit bei der LAGEN bereits seit 2020 als Forschungskoordinatorin am Institut für Diversitätsforschung der Universität Göttingen tätig. Ab Oktober 2021 werde ich dort eine Post-Doc-Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin beginnen. Damit steht also auch ein Abschied von der LAGEN-Koordination an.

SM: Welche Tätigkeiten beinhaltet Deine Mitarbeit bei der LAGEN?

JG: Wie sich meine Einbindung in die LAGEN in der Zukunft gestaltet, wird sich noch zeigen. Ich kann aber versprechen, dass ich der LAGEN als Wissenschaftlerin erhalten bleibe. 

SM: Deine letzte Publikation in einem Satz?

JG: Feministische Widerstandspraktiken sind vielfältig, facettenreich und an verschiedensten sozialen Orten zu finden.

SM: Welchen Bezug hat Deine Dissertation zur aktuellen feministischen Forschung?

JG: Einen besonderen, würde ich sagen. Mich beschäftigten immer wieder das Theorie-Praxis-Verhältnis und wie Geschlechterwissen in widerständigen Praktiken zum Beispiel als wissenschaftliches Wissen, als alltägliches Wissen oder auch als feministisches Wissen entsteht und was das für die Herausbildung eines feministischen Subjekts bedeutet.

SM: Wem würdest du dein Buch empfehlen?

JG: Ich würde es selbstverständlich allen Geschlechterforschenden empfehlen und besonders jenen, die an feministischen Bewegungen und geschlechterpolitischen Perspektiven interessiert sind. 

SM: Dein Projekt in einem Satz?

JG: In meinem neuen Projekt beschäftige ich mich auch weiterhin mit widerständigen Praktiken und werde mit einem intersektionalen Fokus emanzipatorische Praktiken in Ostdeutschland empirisch untersuchen.

SM: Welchen Bezug hat Dein Forschungsprojekt zur aktuellen feministischen Forschung?

JG: Ich gehe davon aus, dass feministische Perspektiven Teil von emanzipatorischen Transformationsbestrebungen sind. Gegenwärtig wird wieder vermehrt über die Bedeutung der Kategorie Klasse diskutiert. Ich denke, dass eine intersektionale und reflexive Forschungsperspektive spannende Ergebnisse hinsichtlich der ostdeutschen Transformationsgesellschaft geben kann. Zugleich ist ein Blick über den Tellerrand wichtig: Ich denke, dass hier de-/postkoloniale Wissensproduktionen interessante Perspektiven zu Fragen der widerständigen, sozialen Transformation anbieten.

SM: Was macht Dein Forschungsprojekt besonders?

JG: Besonders ist meine Perspektive auf die widerständigen Praktiken, die sowohl im öffentlichen-sichtbaren Raum, z. B. bei Demonstrationen, als auch im vermeintlich privaten-unsichtbaren Raum verortet sind.

SM: Mit wem würdest Du gern Dein aktuelles Forschungsprojekt diskutieren? Und warum?

JG: Ganz im Sinne des miteinander Redens und zur Verbindung von Theorie und Praxis: Mit den widerständigen Akteur_innen selbst.

SM: Du sitzt mit Freund_innen am Küchentisch und das Thema Gender wird angesprochen. Wie erklärst Du deinen Bezug zum Thema und was es mit Deinem Beruf zu tun hat?

JG: Die Diskussionen um die Bedeutung der Kategorien Frau, oder Geschlecht bzw. Gender, sind in den sozialen Bewegungen bereits seit den Alten Frauenbewegungen ein Dauerthema. Soziale Bewegungen und emanzipatorische Projekte, die an der Aufhebung von sozialen Ungleichheiten und Diskriminierungen interessiert sind, kommen nicht ohne eine Analyse der Kategorie Geschlecht aus.

SM: Was liest Du, wenn du keine wissenschaftlichen Texte liest?

JG: Ich lese gern politische Monatszeitungen und (auto-)biografische Romane, die mir Lebensweisen und soziale Kontexte näher bringen.

SM: Welche Autor_innen liest du gerne? Und wieso? Welche Bücher würdest Du auf jeden Fall weiterempfehlen?

JG: Ich habe nicht wirklich Lieblingsautor_innen, ich gehe am liebsten in meine Lieblingsbuchhandlung, die von einem feministischen Frauenkollektiv geführt wird, und lasse mich betraten. Bücher, die mich in den letzten Jahren nachhaltig beeindruckt haben, waren u. a. Siri Hustvedts "Die gleißende Welt", Ta-Nehisi Coates "Zwischen mir und der Welt", Katja Oskamps "Marzahn, mon amour", Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" und Manja Präkels "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß".

SM: Für was hättest Du gerne mehr Zeit?

JG: Das ist immer eine Frage der gegenwärtigen Situation. Aktuell würde ich gern mehr Zeit zum Reisen haben. Mein Garten würde sich aber sicher auch freuen, wenn ich mehr Zeit für ihn hätte.

SM: Was würdest Du an einem Tag unternehmen, an dem die gesamte technische Infrastruktur und alle technischen Geräte nicht funktionieren würden?

JG: Wahrscheinlich würde ich mich der Gartenarbeit widmen, zwischendurch etwas Schreiben (das geht eh am besten mit Füller und Kladde) und abends sehr lang und ausgiebig kochen - direkt im Garten, auf dem offenen Feuer.

SM: Wen würdest Du gerne einmal treffen? Warum?

JG: Schwierig, ich finde alle Menschen spannend, die ich treffe. Da möchte ich mich wirklich nicht festlegen. Aktuell ist eine Zapatistische Delegation in Europa - ich hoffe sehr, dass ich sie treffen kann.

SM: Wohin würdest Du gerne verreisen? Warum dorthin?

JG: Im Urlaub bereise gern meine nähere Umgebung, erkunde sie zu Fuß oder per Rad. Aber ich würde auch gern einmal nach Lateinamerika reisen, um dort die sozialen Bewegungen, verschiedenen widerständigen Praktiken und das Alltägliche mitzuerleben.

SM: An welchen Vorbildern - seien es Menschen oder Projekte - orientierst Du Dich?

JG: Ich habe keine klassischen Vorbilder. Aber mich beeindrucken (feministische) Menschen, die in ihrem Alltag widerständig sind, die Bedingungen hinterfragen, Verhältnisse auf den Kopf stellen und ein besseres Leben für alle erstreiten.

SM: Ich habe Freude an meinem Beruf, weil ...

JG: ... ich die Möglichkeit habe, mich intensiv mit unserer Welt zu beschäftigen.

SM: Die LAGEN ist wichtig, weil ...

JG: ... sie als Netzwerk unterschiedliche Denker_innen aus verschiedensten Disziplinen zusammenbringt.

SM: Ich wünsche der LAGEN, dass ...

JG: ... sie eine angemessene finanzielle wie auch ideelle Förderung erhält, sich immer weiterentwickelt und kritisch bleibt. 

SM: Möchtest Du noch ein Schlusswort sprechen?

JG: Ich möchte mich bei dem gesamten LAGEN-Netzwerk für die vertrauensvolle und inspirierende Zusammenarbeit in den letzten Jahren bedanken!

SM: Vielen Dank Jördis für das schöne Interview und Dein tolles Engagement die letzten Jahre. Auf die nächsten gemeinsamen Projekte!