Franziska Ohde im Gespräch mit Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Helene Götschel, Maria-Goeppert-Mayer (MGM) Professorin für Gender in Ingenieurwissenschaften und Informatik an der Fakultät für Maschinenbau und Bioverfahrenstechnik der Hochschule Hannover

Porträt Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Helene Götschel

FO: Können Sie Ihre aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit in zwei bis drei Sätzen skizzieren?

HG: Als Professorin für Gender in Ingenieurwissenschaften und Informatik an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften beschäftige ich mich mit der Bedeutung von Geschlecht und Diversität im MINT-Bereich. Dabei hinterfrage ich binäre gesellschaftliche Zuordnungen, etwa in Bezug auf Technikkompetenz oder Geschlecht, und setze diese Erkenntnisse um in meiner gender- und diversity-informierten Lehre physikalischer Grundlagen.


FO: Welche Relevanz hat Gender in Ihrem Fachbereich?

HG: Diese Relevanz ist so augenfällig! Ich kann hier nur wenige Beispiele benennen. Frauen und junge Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität werden auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Maschinenbau oder Elektrotechnik als nicht wirklich zur Fachkultur zugehörig wahrgenommen. Homosexualität scheint - ähnlich wie im Männerfußball - die vermeintlich benötigte Männlichkeit technischer Akteur_innen ebenfalls zu gefährden. In die Artefakte der Ingenieurwissenschaften werden normierte Vorstellungen von Nutzer_innen eingeschrieben. Lehrbücher wenden sich in ihrer generisch maskulinen Sprache und ihren fast ausschließlich an weißen, männlichen Normalbiographien orientierten Beispielen nur an einen Teil des technischen Nachwuchses. Gleichzeitig gibt es im Maschinenbau an unserer Fakultät, und dies gilt soweit ich weiß auch für andere Hochschulen, bislang kaum Diskussionen oder Überlegungen zur Relevanz von Gender, die über Frauenförderung und Gender Mainstreaming hinausgehen. Und selbst dabei wird Geschlecht oft unreflektiert im Sinne einer als natürlich angesehenen Zweigeschlechtlichkeit vereinfacht.


FO: Seit wann sind Sie bei der LAGEN aktiv und über welche Mitgliedseinrichtung nehmen Sie an der LAGEN teil?

HG: Seit 2015 bin ich in der LAGEN aktiv. Da es an unserer Hochschule bislang keine Einrichtung für Geschlechterforschung gibt, bin ich individuelles Mitglied der LAGEN. Gleichzeitig versuche ich mit anderen Kolleginnen, ein Zentrum für Geschlechterforschung an unserer Hochschule anzuschieben.


FO: Welche Tätigkeiten beinhaltet Ihre Mitarbeit an der LAGEN?

HG: Ich nehme, soweit meine Lehrtätigkeit das gestattet, an den Mitgliederversammlungen der LAGEN sowie an den Tagungen und Doktorand_innentagen teil. An der Vorbereitung und Durchführung der internationalen Tagung "Politiken der Reproduktion" habe ich ebenso mitgewirkt, wie an Band 1 der Schriftenreihe L'AGENda.


FO: Ihre letzte Publikation in einem Satz?

HG: Meine aktuelle deutschsprachige Veröffentlichung ist ein Artikel über unterschiedliche Lehrmöglichkeiten im Bereich Gender und Physik im von Corinna Bath u.a. herausgegebenen Sammelband "reboot ING. Handbuch Gender-Lehre in den Ingenieurwissenschaften".


FO: Welchen Bezug hat Ihr(e) Publikation/Buch zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung/Gender Studies?

HG: Die Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich damit, wie in der ingenieurwissenschaftlichen Lehre überkommene Geschlechter- und Technikvorstellungen revidiert und Studiengänge und Berufsbilder entsprechend aktualisiert werden können.


FO: Wem würden Sie Ihr/e Publikation/Buch empfehlen?

HG: Personen, die mehr junge Menschen für ein ingenieurwissenschaftliches Studium gewinnen oder bestehende Studiengänge bei der Re-Akkreditierung zeitgemäß gestalten wollen und für Innovationen der ingenieurwissenschaftlichen Lehre Anregungen suchen, werden in diesem Handbuch fündig.


FO: Ihr aktuelles Projekt in einem Satz?

HG: Aktuell untersuche ich, wie bei der Vermittlung von physikalischem Wissen auch Kompetenzen über das Hinterfragen von Repräsentationen und Normen (von Technikkompetenz, Helden der Physikgeschichte, physikalischer Begabung, vermeintlich binärer Zweigeschlechtlichkeit, hegemonialer Männlichkeit u.a.m.) vermittelt werden können.


FO: Welchen Bezug hat Ihr Forschungsprojekt zur aktuellen feministischen Forschung bzw. zur Geschlechterforschung/Gender Studies?

HG: Bei meinem Forschungsprojekt "Teaching Queering Physics" handelt es sich genuin um physikalische Geschlechterforschung.


FO: Was macht Ihr Forschungsprojekt besonders?

HG: Normen und Normierungsprozesse sowie die dadurch verursachten vielfachen Ausschlüsse aus MINT geraten in den Blick und können in Handlungsempfehlungen zu Gender und Diversität in der Lehre in MINT Berücksichtigung finden.


FO: Mit wem würden Sie gern Ihr aktuelles Forschungsprojekt diskutieren? Und warum?

HG: Sehr gerne möchte ich über Theorien der Geschlechterforschung mit ehemaligen Kolleg*innen des Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Uppsala (working group gender and physics) diskutieren. Außerdem ist es mir wichtig mich mit Menschen auszutauschen, die Innovationen in der Grundausbildung technischer Studiengänge an Hochschulen für angewandte Wissenschaften (Fachhochschulen) in Niedersachsen und darüber hinaus aus gender- und diversitätsinformierter Perspektive voranbringen wollen.


FO: Sie sitzen mit Freund_innen am Küchentisch und das Thema Gender wird angesprochen. Wie erklären Sie Ihren Bezug zum Thema und was es mit Ihrem Beruf zu tun hat?

HG: Ich werde tatsächlich sehr oft darauf angesprochen, was Gender denn mit Maschinenbau zu tun hätte. Je nachdem, wer fragt, erkläre ich mit möglichst einfachen oder eher differenzierenden Worten in etwa die Punkte, die ich oben bei der Frage "Welche Relevanz hat Gender in Ihrem Fachbereich?" bereits anführte.


FO: Was lesen Sie, wenn sie keine wissenschaftlichen Texte lesen?

HG: Zur Entspannung gerne Krimis sowie im Moment Kurzgeschichten von nichtbinären Menschen.


FO: Welche Autor_innen lesen Sie gerne? Und wieso?

HG: Hier kann ich keine speziellen Namen nennen.


FO: Welche Bücher würden Sie auf jeden Fall weiterempfehlen?

HG: Zwei Bücher gibt es, die mich schon lange begleiten und immer wieder aufs Neue faszinieren: Ljudmila Ulitzkaja: Ein fröhliches Begräbnis und Boris Vian: Herbst in Peking. Vor ein paar Jahren kam dann noch Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe dazu.


FO: Für was hätten Sie gerne mehr Zeit?

HG: Wirklich für alles Mögliche. Ich hatte vor einigen Jahren sogar eine Liste angefangen mit Dingen, die ich unbedingt tun oder kennenlernen möchte. Irgendwann dann habe ich aufgegeben die Liste fortzusetzen, weil ich all das in diesem Leben nicht mehr schaffen kann.


FO: Was würden Sie an einem Tag unternehmen, an dem die gesamte technische Infrastruktur und alle technischen Geräte nicht funktionieren würden?

HG: Ohne technische Geräte wäre ich ziemlich aufgeschmissen. Kein Wasserkocher und kein Radio am Morgen. Kein Smartphone auf dem Weg, kein Computer im Büro. Vielleicht würde ich mich aufs Fahrrad schwingen und durch die Gegend fahren oder mich mit einem Buch aufs Sofa lümmeln. Telefonieren ginge ja dann auch nicht.


FO: Wen würden Sie gerne einmal treffen? Warum?

HG: Ich würde gerne Stafford und Hilda Viloria aus dem Dokumentarfilm "Gendernauts - eine Reise durch das Land der Neuen Geschlechter" (D 1999, R: Monika Treut) treffen und mich mit ihnen darüber unterhalten, was sie in den vergangenen knapp 20 Jahren erlebt haben und wie es ihnen heute geht.


FO: Wohin würden Sie gerne verreisen? Warum dorthin?

HG: Momentan hätte ich große Lust, nach Schweden zu reisen. In Uppsala habe ich zwischen 2007 und 2011 gelebt und gearbeitet.


FO: An welchen Vorbildern - seien es Menschen oder Projekte -, orientieren Sie sich?

HG: Ein Vorbild im konkreten Sinn habe ich nicht. Aber mir imponieren Menschen, die klug sind, sich differenziert ausdrücken können, Humor haben, unabhängig und mutig sind, Dinge bedenken die andere leicht übersehen, diskriminierungssensibel agieren und politisch handeln. Die Wissenschaftsforscherin Donna Haraway wäre dafür vielleicht ein konkretes Beispiel aus der Wissenschaft.

 

FO: Bitte vollenden Sie die folgenden Sätze:

FO: Ich habe Freude an meinem Beruf,...
HG: ...weil ich für mein Leben gerne vermeintlich unvereinbare Bereiche zusammendenke.

FO: Die LAGEN ist wichtig,...
HG: ...weil sie ganz wesentlich dazu beträgt, niedersächsische Geschlechterforschung sichtbar zu machen. Die Vernetzung stärkt auch mich, die ich keine Einrichtung für Frauen- und Geschlechterforschung an meiner Hochschule im Rücken habe.

FO: Ich wünsche der LAGEN,...
HG: ...dass sich an allen niedersächsischen Hochschulen Zentren für Geschlechterforschung gründen, die über die LAGEN vernetzt sind und auch in die unterschiedlichsten Fachdisziplinen der Hochschulen hinein wirken können (hier denke ich insbesondere an die Ingenieurwissenschaften).


FO:Wollen Sie noch ein Schlusswort sprechen/einen abschließenden Satz sagen?

HG: Ich suche nach einem praktikablen und zugleich diskriminierungsfreien Begriff für Ingenieurwissenschaften. Ingenieur_innenwissenschaften und Technikwissenschaften sind keine befriedigenden Alternativen. Kennen Sie einen kreativen Vorschlag?

FO: Spontan leider nicht, aber ich werde weiter darüber nachdenken. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben!